Neuer Nationalparkwald - die Rückkehr der Laubwälder unter toten Altfichten. Aufnahme Danilo Hartung. - kopf

Waldverjüngung: Nationalpark-Besucher können spannende Phase in der Waldentwicklung beobachten

Im Harzer Großschutzgebiet entstehen neue Waldbilder. Wissenschaftler bezeichnen diesen Vorgang als Sukzession

Wernigerode, 18. Juni 2024. Im Nationalpark Harz sind in den vergangenen Jahren neue Waldbilder entstanden. Getreu dem Nationalpark-Motto „Natur Natur sein lassen“ kann sich die Natur in großen Teilen des Nationalparks frei entwickeln. Im Großschutzgebiet dürfen vom Menschen geprägte ehemalige Wirtschaftswälder wieder zu wilden Naturwäldern werden. Dabei geht die Natur sehr konsequent vor. Ein für viele Menschen befremdlicher, aber auch faszinierender Waldwandel unter Regie der Natur setzt ein.

Durch den höheren Lichteinfall profitieren zahlreiche farbenfrohen Blütenpflanzen wie Weidenröschen und Fuchs-Greiskraut. Es entsteht ein Paradies für viele Insekten. Foto: U. Springemann;
Durch den höheren Lichteinfall profitieren zahlreiche farbenfrohen Blütenpflanzen wie Weidenröschen und Fuchs-Greiskraut. Es entsteht ein Paradies für viele Insekten. Foto: U. Springemann;

Sterbende Fichten sind im Nationalpark nicht das Ende des Waldes, sondern der Neubeginn der wachsenden Wildnis. Der natürliche Waldwandel lässt sich in verschiedenen Stadien im Nationalpark Harz aktuell gut beobachten. Die grauen Silhouetten abgestorbener Fichten ragen in den Himmel oder liegen – teilweise wild übereinander – im Gelände oder an den Straßenrändern. Der für viele Besucher gewöhnungsbedürftige Anblick ist nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg zur neuen Wildnis. Schnell beginnt die Natur, sich zu entfalten. Junge Bäume wachsen. Die Zahl der Tier- und Pflanzenarten nimmt deutlich zu. Seltene und bedrohte Arten finden wieder Lebensräume und kehren zurück.

Blütenpracht auf Totholzflächen. Foto: R. Pietsch;
Blütenpracht auf Totholzflächen. Foto: R. Pietsch;

Baumartenzusammensetzung und Altersstrukturen grundlegend verändert

Dr. Roland Pietsch, Leiter des Nationalparks, sagt: „Als ich hier vor fast drei Jahren meine Arbeit aufgenommen habe, habe ich in den vielen Gesprächen zahlreichen besorgten Menschen versprochen, dass im Schutzgebiet überall wieder Wald wachsen würde und dass dies auch recht schnell zu sehen sein würde.“ Auf den meisten Flächen ist es inzwischen soweit und in wenigen Jahren wird hier bereits schon wieder der Charakter eines Waldes entstanden sein. Pietsch weiter: „Obwohl Fachleuten das klar ist, ist es beeindruckend, das hier nun auch so großflächig und gerade unter dem Schutz des Totholzes beobachten zu können.“

In Folge verschiedener Störungen wie Witterungsextreme und Borkenkäferbefall sind große Sukzessionsflächen mit Laub- und Nadelbäumen entstanden. Foto: R. Pietsch;
In Folge verschiedener Störungen wie Witterungsextreme und Borkenkäferbefall sind große Sukzessionsflächen mit Laub- und Nadelbäumen entstanden. Foto: R. Pietsch;

Wissenschaftler bezeichnen diesen Vorgang als Sukzession: Darunter versteht man einen natürlichen Veränderungsprozess in der Artenzusammensetzung eines Ökosystems im Lauf der Zeit, vor allem nach einer Störung wie etwa einem Sturm oder eben einem großflächigen Absterben des alten Baumbestandes. Im Laufe dieses Vorgangs besiedeln die typischen Pflanzen-, Tier- und Pilzgesellschaften einen Standort neu, es kommen aber auch andere Arten hinzu, die vorher dort keinen geeigneten Lebensraum fanden.

Sukzessionsfläche mit Fichte in den höheren Lagen des Nationalparks. Die Fichte ist vor längerer Zeit durch den Befall von Borkenkäfer abgestorben. Das stehende und liegende Totholz wurde auf der Fläche belassen und bietet vielen Arten einen Lebensraum. Foto: U. Springemann;
Sukzessionsfläche mit Fichte in den höheren Lagen des Nationalparks. Die Fichte ist vor längerer Zeit durch den Befall von Borkenkäfer abgestorben. Das stehende und liegende Totholz wurde auf der Fläche belassen und bietet vielen Arten einen Lebensraum. Foto: U. Springemann;

Die massiven Störungen der vergangenen Jahre aufgrund von zahlreichen Stürmen, extremen Witterungsverhältnissen und dem Wirken der Borkenkäfer auf großer Fläche haben die Baumartenverteilung und -zusammensetzung sowie die Altersstrukturen im Nationalpark grundlegend verändert. Vor allem in der Naturdynamikzone sind heute großflächige Sukzessionsflächen vorhanden. Im Nationalpark ist die obere Baumschicht an vielen Stellen abgestorben und damit haben sich die Standorteigenschaften verändert. Insbesondere der Faktor Licht gewinnt an Bedeutung. In einem frühen Sukzessionsstadium entstehen Waldlichtungsfluren mit einer Vegetation aus Gräsern, Kräutern, Stauden, Himbeere und verschiedenen Brombeer-Arten. Recht zügig finden sich verschieden Sträucher wie beispielweise Holunder und Weiden ein.

Vielfältiges Mosaik an Pflanzengesellschaften und Habitatstrukturen

Je nach Höhenlage und den standörtlichen Gegebenheiten finden sich nach und nach zudem verschiedene Laub- und Nadelbaumarten ein. Zu den Pionieren der Laubbäume zählen Birke, Aspe, Eberesche und Salweide. Da die Absterbeprozesse der Bäume zeitlich und räumlichen sehr unterschiedlich ablaufen, entsteht ein vielfältiges Mosaik an Pflanzengesellschaften und Habitatstrukturen. In den höheren Lagen, wie beispielweise unterhalb des Brockens, wird die natürliche Sukzession durch die Fichte, die dort von Natur aus heimisch ist, und die Eberesche bestimmt. In den mittleren und unteren Lagen sind es die Laubbaumarten, die die Waldbilder prägen. Auf Grund der vorherigen Dominanz der Fichte sind große Samenmengen im Boden vorhanden, so dass die Fichte in diesen Lagen als steter Begleiter in den Sukzessionsflächen anzutreffen ist. Von den Veränderungen profitieren auch viele Tierarten, etwa Boden- und Gebüschbrüter wie Zaunkönig, Rotkehlchen und Baumpieper, aber auch Spechte und von deren Höhlen Kleineulen und Fledermäuse. Aktuelle Studienergebnisse des Nationalparks weisen darauf hin, dass gerade auch Totholz im Wald die Vogel-Vielfalt fördert. Und auch zahlreiche andere Tiere, Pflanzen, Pilze und Kleinlebewesen profitieren direkt oder indirekt vom Wandel zur Wildnis.

Die mit den zahlreichen Störungen verbundene Baumsterblichkeit in unseren Wäldern ist für die Natur keine Katastrophe. Gerade im Hinblick auf den Artenschutz und Biodiversität bieten derartige Störungen neue Chancen für unsere Waldökosysteme. Der Wald im Nationalpark stirbt also nicht – im Gegenteil: ein neuer, vitaler und artenreicher Wald wächst bereits heran. Es ist eindrucksvoll, diese dynamischen Entwicklungsprozesse, die gerade in der Natur ablaufen, aus nächster Nähe zu beobachten, gerade im Nationalpark, wo diese im Wesentlichen vom Menschen unbeeinflusst ablaufen. Für Naturliebhaber ist dies gerade eine überaus spannende Phase in der Waldentwicklung, es gibt eigentlich ständig etwas Neues zu entdecken.

Weitere Informationen gibt es auf der Internetseite des Nationalparks Harz unter www.nationalpark-harz.de/de/waldwandel-zur-Wildnis/Waldwandel-zur-Wildnis/


FOTO 1: Durch den höheren Lichteinfall profitieren zahlreiche farbenfrohen Blütenpflanzen wie Weidenröschen und Fuchs-Greiskraut. Es entsteht ein Paradies für viele Insekten. Foto: U. Springemann;

FOTO 2: Blütenpracht auf Totholzflächen. Foto: R. Pietsch;

FOTO 3: In Folge verschiedener Störungen wie Witterungsextreme und Borkenkäferbefall sind große Sukzessionsflächen mit Laub- und Nadelbäumen entstanden. Foto: R. Pietsch;

FOTO 4: Sukzessionsfläche mit Fichte in den höheren Lagen des Nationalparks. Die Fichte ist vor längerer Zeit durch den Befall von Borkenkäfer abgestorben. Das stehende und liegende Totholz wurde auf der Fläche belassen und bietet vielen Arten einen Lebensraum. Foto: U. Springemann;